Neozoa (Makrozoobenthos) in den deutschen Gewässern - Eine Einführung -
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Die Artenzusammensetzung von Ökosystemen unterliegt einem ständigen Wandel. So treten Arten häufig aufgrund natürlicher Arealfluktuationen mit Erweiterung der Grenzen ihres Kernareals unerwartet in neuen Gebieten auf. Besondere Beachtung finden zunehmend Funde von Arten, die seit 1492 (Entdeckung Amerikas durch Kolumbus, Beginn des globalen Handels) unter direkter oder indirekter Mitwirkung des Menschen in ein ihnen zuvor nicht zugängliches Gebiet gelangt sind. Falls es Tiere sind, werden sie im Allgemeinen als Neozoon / Neozoa (Neozoe / Neozoen) bezeichnet, Pflanzen entsprechend als Neophyton / Neophyta (Neophyt / Neophyten). Es gibt aber eine Vielzahl weiterer Begriffe, die Anwendung finden (Aliens, Exoten, nicht-heimisch, gebietsfremd etc.). Neobiota sind heute allgegenwärtig und ihre Thematik ist sehr komplex und teilweise durch emotional geprägte Wahrnehmung beeinflusst. Die kurze Einführung am Beispiel der in unsere Gewässer (Binnen, Nord- und Ostsee) anthropogen eingeschleppten Arten des Makrozoobenthos soll daher vor allem Interesse an einer erst in den letzten Jahren zunehmend Beachtung findenden Forschungsrichtung wecken. Am Ende der Seite werden zur Vertiefung spezifischer Fragestellungen ausgewählte wissenschaftliche Aufsätze über Neobiota zum Download angeboten sowie eine Kontaktadresse für weitere Informationen gegeben.
INFO: Eine Übersicht über alle Neobiota unserer Gewässer findet sich bei www.aquatic-aliens.de.
DIE BIODIVERSITÄT Der weltweit beobachtete nachhaltige Rückgang an biologischer Vielfalt ist eine Bedrohung der Lebensmöglichkeiten und hat dazu geführt, dass Biodiversität in den letzten Jahren zu einem wichtigen Feld der internationalen Umweltpolitik geworden ist. Im Jahre 1993 hat die Bundesrepublik Deutschland das „Übereinkommen zur Biologischen Vielfalt“ (Biodiversitätskonvention der UN-Konferenz von Rio de Janeiro 1992, CBD) ratifiziert. Um den Bemühungen zur Erhaltung der Biodiversität aber eine Grundlage zu geben, sind Aussagen über den Stand, die Verteilung und die möglicherweise bedrohlichen Veränderungen der Vielfalt unabdingbar. Trotz der verstärkten deskriptiven Erfassung von Arten seit dem 18. Jahrhundert ist das genaue Ausmaß der Diversität des Lebens immer noch ungeklärt. Die Erfassung des Arteninventars und der Klärung der Verwandtschaftsbeziehungen zwischen diesen stellt bis heute die Basis dar, um Biodiversität beschreiben und Erkenntnisse zu ihrer Erhaltung gewinnen zu können. Wesentlich für die Beurteilung bzw. Bewertung von ermittelter Artenvielfalt eines Lebensraumes im Hinblick auf Erhaltungs- und Schutzwürdigkeit ist die Herkunft jeder einzelnen Art. Dabei ist zwischen natürlich vorkommenden und bewusst oder unbewusst durch Aktivitäten des Menschen etablierten Arten zu differenzieren. Letztere führen auf der einen Seite zu einer „Scheindiversität“, aber auf der anderen Seite zur Homogenisierung früher getrennter Biozönosen und damit auch auf globaler Ebene zu einem Biodiversitätsverlust. Umfassende Kenntnisse über das Vorkommen fremder Arten sind also für eine Beurteilung der Biodiversität unabdingbar. |
NEOZOA (MAKROZOOBENTHOS) IN DEN DEUTSCHEN GEWÄSSERN Herkunft und Verbreitung Potenzielle Herkunftsgebiete für in die Gewässer integrierbare Organismen sind vor allem durch vergleichbare Umweltbedingungen gekennzeichnet. Deutschland gehört zur kühlgemäßigten Zone mit größtenteils subozeanischen Klima. Vergleichbare Bedingungen liegen teilweise auch in den kühlgemäßigten Regionen der Pontokaspis sowie an den Küsten Süd- und Nordamerikas, Japans, Tasmaniens und Neuseelands vor. Die überwiegende Mehrzahl der Neobiota hat aber aufgrund mangelnder Anpassungsfähigkeit an die neuen Umweltbedingungen keine Überlebenschancen. In den Gewässern kommen vor allem neben dem Sauerstoffgehalt, der Temperatur, der chemischen Belastung und dem Ausbau zur Wasserstraße mit all seinen Konsequenzen noch ergänzend wechselnde Wasserstände und speziell an der Küste die Ausbildung einer Vermischungszone zwischen Meer- und Süßwasser hinzu (Bild 1). Da schon ein einzelner Faktor für sich allein verbreitungslimitierend wirken kann, besitzen hier v.a. Ubiquisten die größte Chance zur Etablierung. So sind auch unter den in den deutschen Gewässern etablierten gebietsfremden Arten zum großen Teil konkurrenzstarke und euryöke Arten vertreten.
Unter den aquatischen Tier- und Pflanzengruppen stellt die größte Gruppe mit aktuell insgesamt 77 eingeschleppten Arten das Makrozoobenthos dar (Tabelle 1, Stand: Februar 2011), dessen wissenschaftliche Dokumentation auch am umfassendsten ist. Die deutsche Nordseeküste und die angrenzenden Brackgewässer besiedeln heute dauerhaft 33 gebietsfremde Arten, von denen einige Arten auch Massenvorkommen ausbilden (z.B. die Scheidenmuschel Ensis americanus). Ihr Anteil an der Gesamtartenzahl des Makrozoobenthos liegt zwischen 1 bis 20%. 15 dieser Arten werden auch an der Ostseeküste regelmäßig und teilweise ebenfalls in hohen Abundanzen gefunden, ergänzt um die aktuell eingeschleppten Flohkrebse Pontogammarus robustoides und Melita nitida. Hier beträgt ihr Anteil an der Fauna ca. 3%. Anhand von subfossilen Funden vermutet man, dass schon um das Jahr 1000 die nordamerikanische Sandklaffmuschel (Mya arenaria) durch die Wikinger in Nord- und Ostsee eingeschleppt wurde. Da der Einschleppungszeitpunkt vor 1492 liegt, spricht man bei solchen Arten von Archäobiota. Teilweise werden solche Arten auch in Auflistungen von gebietsfremden Arten mit aufgeführt. Die meisten gebietsfremden Makroinvertebraten finden sich in den Binnengewässern. Insgesamt konnten hier bisher 52 eingeschleppte Arten als etabliert nachgewiesen werden, die vor allem aus dem pontokaspischen Raum stammen. Die meisten Arten haben vor allem in den Binnenwasserstraßen dauerhafte Populationen ausgebildet, wo ihr Anteil an der Gesamtartenzahl bis zu 18% betragen kann (Bild 1).
Die Schifffahrt - Einschleppungsvektor Nr. 1 Der mit Abstand wichtigste Transportvektor für die bisher in deutschen Gewässern etablierten gebietsfremden Makroinvertebraten ist die Schifffahrt. Bis heute wurden 50 Makrozoobenthos-Arten entweder mit der interkontinentalen Seeschifffahrt oder mit der Binnenschifffahrt bzw. speziell durch die während der letzten Jahrhunderte gebauten Kanäle, die die natürlichen Verbreitungsbarrieren zwischen den Einzugsgebieten der Flüsse beseitigt haben, eingeschleppt. Aufgrund der limnischen Barriere spielt der Faunen- und Florenaustausch über Kanäle für die deutsche Nordseeküste aber eine untergeordnete Rolle. Für diesen Bereich ist die Seeschifffahrt von entscheidender Bedeutung. Berechnungen zum Individueneintrag durch gelenztes Ballastwasser aus außereuropäischen Regionen in die Häfen an der deutschen Nordseeküste ergaben, dass hier täglich 2,7 Mio. Organismen freigesetzt werden. Trotz dieser enormen Zahl sind aber die Schiffsaußenhaut und die Ballastwassertanks von Seeschiffen als erfolgreiche Transportvektoren etwa gleichbedeutend. Die meisten freigesetzten Organismen werden jedoch anscheinend durch ungünstige Umweltbedingungen schnell eliminiert. Für die deutsche Ostseeküste ist die direkte Einschleppung mit der Seeschifffahrt unbedeutend. Hier stammen die gebietsfremden Arten entweder aus dem pontokaspischen Raum und sind über Kanäle größtenteils mit Binnenschiffen verschleppt worden oder wurden zuerst in den Nordseebereich eingeschleppt und verbreiteten sich von hier entweder über den Nordostseekanal oder mit Hilfe des natürlichen Vektors Wasserströmung. Für das Auftreten gebietsfremder Arten in den Binnengewässern sind die Kanäle von maßgeblicher Bedeutung. Durch ihren Bau wird vielen vagilen Arten sowie Organismen, die durch die Schleppkraft des Wassers, durch Biovektoren (Vögel, Fische) oder durch Schiffe transportiert werden, eine Ausbreitung in fremde Gewässersysteme ermöglicht. Für das frühe und gehäufte Auftreten der Neozoa aus der pontokaspischen Region in Nordeuropa (z.B. die Wandermuschel Dreissena polymorpha) war v.a. die Eröffnung des Bug-Prypjat-Kanals in 1784, der das Dnieper-Pripet-System mit dem Flüssen Bug und Memel verbindet, von entscheidender Bedeutung. Seit der Eröffnung des Main-Donau-Kanals im Jahr 1992 werden in zunehmendem Maße pontokaspische Arten wie der Borstenwurm Hypania invalida und die Donauassel Jaera istri auch in Main und Rhein festgestellt. Ebenfalls konnten jetzt in der Donau erste Arten aus dem Rhein nachgewiesen werden. Die meisten in die deutschen Binnengewässer eingeschleppten Arten besiedeln hier eine Vielzahl von verschiedenen Einzugsgebieten. Es handelt sich hierbei aber meistens nicht um mehrere unabhängige Neueinschleppungen. Durch den Ausbau der großen Flüsse zu Wasserstraßen (Begradigung, Uferbefestigung, Vertiefung) wurde die Strömungsgeschwindigkeit stark erhöht, wodurch die Arten heute ungehindert innerhalb kurzer Zeit über weite Strecken stromab verfrachtet werden können. Durch den zusätzlichen Bau verschiedener Kanäle, die die großen Flüsse innerhalb Deutschlands miteinander verbinden, können gebietsfremde Arten innerhalb weniger Jahre das gesamte Bundesgebiet besiedeln. Ein aktuelles Beispiel, das diese Verbreitung in beeindruckender Weise zeigt, ist der aus der Pontokaspis stammende Große Höckerflohkrebs Dikerogammarus villosus. Über den Main-Donau-Kanal erreichte diese Neozoe 1995 den Main und innerhalb von 5 Jahren hat dieser effektive Räuber alle großen Flüsse bis zur Oder erfolgreich erobert.
Gebietsfremde Arten und die aquatische Biodiversität Im Gegensatz zu terrestrischen Ökosystemen, für die es erste viel versprechende differenzierte Analysen, Bewertungen und Handlungsvorschläge hinsichtlich gebietsfremder Arten gibt, fehlt Entsprechendes für den aquatischen Bereich fast vollständig. Biologische Invasionen in unsere Gewässer erfolgen größtenteils im Verborgenen und werden daher nur eingeschränkt wahrgenommen. Erste zielgerichtete Datenanalysen zeigen aber, dass unsere Gewässer teilweise schon in einem erheblichen Umfang von gebietsfremden Tierarten besiedelt werden (Bilder 1, 2 und 3B).
Ungefähr jede zweite gebietsfremde Art, die sich in unseren Gewässern etabliert hat, hat sich bis heute erfolgreich über ein größeres Gebiet ausbreiten können. Ungefähr jede fünfte etablierte gebietsfremde Art in unseren Gewässern kann als invasiv im Sinne der Biodiversitätskonvention bezeichnet werden. Welche ökologischen Konsequenzen sich hieraus für die Biozönosen ergeben bzw. in welchem Maße die Biodiversität verändert wird, ist bisher nicht hinreichend analysiert bzw. verstanden. Grundsätzlich sollten nach den Forderungen der Biodiversitätskonvention biologische Invasionen begrenzt werden, wenn dies angebracht und möglich ist. Somit stellt sich die Frage, welchen Invasionen unter welchen Bedingungen wie zu begegnen ist. Hierfür werden differenzierte Einzelfallbewertungen benötigt, die, je nachdem welche Arten und Lebensräume betroffen sind, stark variieren können. Diese können im Einzelfall zur konsequenten Bekämpfung, aber auch zur Tolerierung oder sogar zur Förderung bestimmter Arten führen. Bisher werden im aquatischen Bereich in Deutschland keine bzw. nur in Ausnahmefällen lokale Bekämpfungsmaßnahmen durchgeführt (ein Beispiel ist das offizielle Abfischen von Laich und Kaulquappen des Ochsenfrosches in Gewässern bei Karlsruhe). Im Allgemeinen werden die vorhandenen Neobiota einfach toleriert, vor allem Fische werden oftmals sogar gefördert. Ein interessantes Beispiel hinsichtlich möglicher Auswirkungen auf die Biodiversität ist aktuell an der Nordseeküste zu beobachten: Bis in die 1920er Jahre waren Bänke der Europäischen Auster Ostrea edulis ein prägendes Strukturelement in dem an Hartsubstrat armen Wattenmeer. Über 100 von den ca. 350 Makrozoobenthos-Arten des Wattenmeeres waren mit der Europäischen Auster vergesellschaftet, was Karl Möbius den Begriff der »Biocoenosis oder Lebensgemeinde« entwickeln ließ. Durch jahrelange kommerzielle Übernutzung der Austernbänke kam es jedoch zu einem völligen Verschwinden dieses Biotoptyps. Versuche einer Wiederbelebung der Austernbänke schlugen wiederholt fehl. Seit Anfang der 1990er Jahre breitet sich nun hier die in einer Aquakulturanlage bei List auf Sylt gezüchtete Pazifische Auster (Crassostrea gigas) weiträumig aus und es scheinen sich aktuell erste natürliche Austernbänke zu bilden. Aus der Etablierung dieser gebietsfremden Art und der Reaktivierung des Wattenmeer typischen Biotops Austernbank könnte daher ein möglicher Gewinn für die Biodiversität des Wattenmeeres abgeleitet werden. Auf der anderen Seite werden durch pazifische Austern zunehmend natürliche Miesmuschelbänke besiedelt, wodurch ein Bestandsrückgang der Miesmuschel aktuell nicht auszuschließen ist. Welche genauen Auswirkungen die rasante Ausbreitung der pazifischen Auster auf die heimischen Lebensgemeinschaften besitzt ist bisher aber noch nicht hinreichend bekannt und wird zurzeit verstärkt untersucht.
Es bleibt abschließend festzustellen, dass eine umfassende Bewertung zum Status der aquatischen Neobiota in Bezug auf Biodiversität aussteht. Hier sind dringend Expertise, umfassende Erkenntnisse und zielgerichtete Analysen notwendig. Stefan Nehring, Koblenz im Mai 2005 (aktualisiert im Februar 2011)
Zitiervorschlag: Nehring, S. (2011): Neozoa (Makrozoobenthos) in den deutschen Gewässern - Eine Einführung. - AeT umweltplanung Koblenz, http://www.neozoa.de
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© 2005 by Dr. Stefan Nehring / www.neozoa.de / Impressum & Datenschutz |